Ministerium der Angst

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Halle im Sommer 1981: Peter Winzer steht am späten Nachmittag auf dem Marktplatz. Mit der Straßenbahn will er zu Freunden nach Halle-Neustadt ins „Gastronom“ fahren. Plötzlich merkt der 21-Jährige, wie sein Körper rebelliert. Ein Hitzegefühl schießt ihm in den Kopf, bis in die Haarspitzen und wandert in Schauern langsam abwärts über den ganzen Körper. Schwindel erfasst ihn. Der junge Mann fürchtet, plötzlich umzufallen. Der große Platz, die vielen Menschen überfordern ihn plötzlich. Vor einem halben Jahr haben ihn Mitarbeiter der Staatssicherheit abgeholt und elf Stunden lang verhört. Die Stasi lässt seitdem nicht locker. Nun übermannt ihn Angst  – er bekommt eine Panikattacke, die später als Folge der Angststörung Agoraphobie diagnostiziert wird. In seinem Fall ist es die Angst vor großen Plätzen und Flächen.

Rückblick, Halle 1966: Der Siebenjährige geht in die Friedenschule in Halle-Ammendorf. Alles verläuft normal: Er wird Pionier und dann Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ). 1976 beginnt er eine Lehre in Halle. Der groß gewachsene, schlaksige Saalestädter schließt sich der Tramper-Szene an. Seine blonden Haare lässt er sich über die Schultern wachsen. Zum Tramper gehören außerdem ein grüner Parka, Blue-Jeans sowie dünne Wildlederschuhe oder die sogenannten Jesus-Latschen. Er beginnt in dieser Zeit, ein politisches Bewusstsein zu entwickeln.

„Jeder hatte so seine Probleme mit dem Staat und mit der Polizei.“
Krätzer über Stasi

An den Wochenenden und im Urlaub trampt der Lehrling zu Konzerten von angesagten Szene-Musikern. „Jeder hatte so seine Probleme mit dem Staat und mit der Polizei.“ Mitte 1977 schließt sich Peter Winzer der Jungen Gemeinde in Halle-Neustadt an. Dort schreibt der junge Mann vermehrt literarische Texte, was ihn später zur Untergrund-Schriftstellerszene der DDR führt. „Aus der Sicht der Staatssicherheit waren das unangepasste Menschen, die als sogenannte negativ-dekadente Jugendliche bezeichnet wurden. Das MfS wollte wissen, was in der Szene passierte. Gegen diese Kreise gab es regelmäßige Zersetzungsmaßnahmen“, sagt Marit Krätzer, Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle.

Peter Winzer verweigert 1978 den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. So gerät er in den Fokus der Staatssicherheit: In den meisten Fällen bedeutete das den Abbruch der Karriere. Das blieb jedenfalls nicht ohne Konsequenzen – und sei außerdem sehr mutig gewesen, sagt Krätzer. Der junge Mann bewirbt sich für mehrere Arbeitsstellen. Es folgen immer Absagen. Der Facharbeiter erfährt, dass Leute wegen ihm angerufen hätten. Wer? „Vom FDGB waren sie jedenfalls nicht“, steckt ihm einer. So muss er ohne feste Arbeitsstelle einen Gelegenheitsjob nach dem anderen annehmen.

Vernehmung im Roten Ochsen

Im Frühjahr 1981: Peter Winzer schlägt sich als Friedhofsgärtner durch. Als er mittags die Arbeit unterbricht und in seine Wohnung will, fangen ihn drei Mitarbeiter der Stasi vor der Haustür ab. Die Fahrt geht nicht, wie erwartet, in die MfS-Zentrale des Bezirkes Halle am Gimritzer Damm. Der Pkw fährt den Jugendlichen in das Gefängnis Roter Ochse: „Da wurde mir anders.“ Dort werden ihm  Personalausweis und  Uhr abgenommen. Er fürchtet eine Inhaftierung. Das Gefängnis-Personal führt ihn in einen karg eingerichteten Raum. Der Tisch darin ist angeschraubt, nur die Stühle lassen sich bewegen. Die Fenster sind mit dunklen Vorhängen verdeckt. Kein Tageslicht dringt in das Zimmer. Die Befragung beginnt. Zwischendurch verlässt der Vernehmer immer wieder den Raum, eine Wache bleibt hingegen immer präsent und herrscht Winzer bei jeder Regung an: „Sitzen bleiben!“ Der Stasi-Mitarbeiter befragt ihn unter anderem nach Solidarnosc, der Reformbewegung in Polen, und nach zwei Freunden von ihm, die kurz vorher verhaftet wurden. Dem Erfurter und dem Hallenser werden staatsfeindliche Hetze vorgeworfen. Später verurteilt sie ein Gericht zu sechs und vier Jahren Gefängnis. Peter Winzer hat mittlerweile das Zeitgefühl verloren. Gegen 23 Uhr darf er den Roten Ochsen verlassen.

Das Verhör hinterlässt Spuren. Einer seiner Freunde hat ihn verraten. Als schlimmer empfindet der Jugendliche die Verdächtigungen gegen ihn. Die Szene fragt sich: Warum sitzen die anderen beiden ein, Winzer aber nicht? „Ein Verhör durch den Staatssicherheitsdienst ist ein einschneidendes und schlimmes Erlebnis gewesen. Sie wollten Informationen bekommen, um ihn oder seinen Freundeskreis zu belasten“, sagt Krätzer.

„Wir sind da! Wir beobachten dich!“
Krätzer über Stasi

Die Stasi setzt den Hallenser 1981 weiter unter Druck. Es folgt eine zweite Vernehmung im Roten Ochsen. Merkwürdige Dinge passieren: Ein roter Lada parkt etwa drei Wochen auffällig vor Winzers Wohnhaus, in seinen Zimmern liegen fremde Zigarettenschachteln und die Klangregler am Radio sind verstellt. Diese Situation überfordert Peter Winzer. Die Hitze steigt ihm zu Kopf, der Körper schaudert und Panikattacken schütteln ihn. Der junge Mann meidet große Plätze mit vielen Menschen und nutzt nur noch Nebenstraßen. Eine Zeit lang verkriecht er sich in seiner Wohnung. Ein Freund muss für ihn einkaufen. Die Staatssicherheit wollte ihm zeigen: Wir sind da! Wir beobachten dich! Sie waren in seinen privaten Bereich eingedrungen. sagt Krätzer. Das Leben des Jugendlichen steht plötzlich auf dem Kopf – wie soll er sich nun verhalten?

Peter Winzer unterwegs als Tramper. Foto: privat

Der junge Mann sucht Hilfe. Er geht zum Arzt und erhält eine psychologische Betreuung. 1986 mündet das in einen fünfwöchigen Krankenhausaufenthalt in der halleschen Diakonie. Man stellt zwar die richtige Diagnose, aber niemand erfährt, warum er krank wurde. Den Ärzten in der DDR verschweigt der Hallenser den Grund. Jeder könnte ein Verräter sein. Angst und Misstrauen sind nun Teil des Alltags. Die Platzangst, an der Peter Winzer leidet, werde zu den Angststörungen gerechnet, sagt Robby Schönfeld vom Institut für Psychologie der Universität Halle. Das Erleiden von Panikattacken sei darauf eine körperliche Reaktion, die individuell unterschiedlich stark ausfallen kann. Der Beginn der Krankheit sei nicht „ein Moment“. Im Fall des von der Stasi verfolgten Mannes seien die Vernehmungen und das Eindringen in den Privatbereich potenzielle Auslöser.

Nach der friedlichen Revolution lässt die Heftigkeit der Krankheitssymptome nach – verschwunden sind sie nicht. Im Jahr 1992 findet Peter Winzer in seiner Stasi-Akte alles bestätigt und mehr. Ein weiterer Freund hat ihn verraten. Bis zu acht Inoffizielle Mitarbeiter haben ihn teilweise beschattet. Drei Operative Personenkontrollen, die der Informationsbeschaffung dienten, wurden in acht Jahren gegen ihn durchgeführt. Ein Gefühl des Ekels beschleicht ihn – und der Erleichterung. Ekel vor dem Eindringen in seine Intimsphäre, in der fremde Menschen herumgeschnüffelt haben. Und die Erleichterung, dass diese Zeit überstanden ist.

Das Vertrauen fehlt

Ab 1993 begibt sich Peter Winzer wieder in fachärztliche Behandlung. Doch ihm fehlt das Vertrauen, sich fremden Menschen öffnen zu können. Er spricht mit nur wenigen Freunden über die Ursachen seine Krankheit – nicht mit Medizinern. Das sei nicht untypisch, sagt Psychologe Schönfeld. Das Misstrauen gegen Amtspersonen kann sich durch die Erlebnisse in der DDR manifestieren. „So entwickelt sich ein Mechanismus im Menschen, der Negativerfahrungen vermeiden will.“ Obwohl er im Laufe von zwanzig Jahren immer wieder Ärzte aufsucht, bleibt die Phobie Teil seines Lebens. Um Angstsituationen im Alltag zu bewältigen, nutzt er die Gegenwart anderer Menschen. Manchmal klammert er sich regelrecht an sie.

Peter Winzer arbeitet seit der Wende in der Sozialarbeit. Viel Zeit widmet er seiner Schriftstellerei, woraus mehrere Publikationen entstanden sind. Im Jahr 2014 besiegt er endlich die Krankheit. Als der Hallenser zu einem Literaturfestival nach Armenien fliegen will, steht er mit seiner Begleiterin im Terminal des Flughafens Schönefeld. Am Schalter erfährt er: Sein Ticket ist nicht gebucht. Seine Begleitung fliegt notgedrungen ohne ihn ab. Nun steht Winzer allein in der großen Halle mit vielen Menschen. Das ist eigentlich für ihn sehr unangenehm. Als er sein  Gepäck nach draußen schafft, merkt er, dass etwas fehlt: die Angst. Sie ist plötzlich weg. Die „spontane Remission“ ist unter bestimmten Umständen nicht ungewöhnlich, sagt Psychologe Schönfeld. Der Körper sei auch ohne ärztliches Dazutun in der Lage, einen Selbstheilungsprozess zu leisten. Ausschlaggebend dafür sei eine anhaltend gute Lebenssituation und dass die Ursache der Angststörung verschwunden sei – in dem Fall die Verfolgung durch die Staatssicherheit. Seit drei Jahren lebt Peter Winzer beschwerdefrei – und kann heute ohne Angst auch den halleschen Marktplatz überqueren.

Begriffe aus der geheimdienstlichen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit:

Operative Personenkontrolle (OPK)
Operative Personenkontrolle (OPK) Die operative Personenkontrolle (OPK) war häufig die Vorstufe zu einem Operativen Vorgang. Dabei wurden Informationen zu einzelnen Personen gesammelt.Die operative Personenkontrolle (OPK) war häufig die Vorstufe zu einem Operativen Vorgang. Dabei wurden Informationen zu einzelnen Personen gesammelt. Quelle: BStU, MfS, BV Halle, AOPK 0677/88, Bd. 1, Bl. 8 Die OPK wurde 1971 in Abgrenzung zum Operativen Vorgang eingeführt. Auf der Grundlage der MfS-Richtlinien 1/71 bzw. 1/81 zielte sie auf die Überprüfung von Verdachtsmomenten zu Verbrechen und Straftaten, das Erkennen „feindlich-negativer“ Haltungen, aber auch den vorbeugenden Schutz von Personen in sicherheitsrelevanten Positionen. Auch Ausländer konnten unter OPK gestellt werden. Zur Informationsbeschaffung wurden staatliche Organe, Betriebe und Institute, gesellschaftliche Organisationen, die Deutsche Volkspolizei und andere Stellen sowie, wenn erforderlich, operative Mittel und Methoden einbezogen. Die OPK endete mit einem Abschlussbericht. Die bearbeitete Person galt bis dahin als aktiv erfasst, da OPK zu den registrierpflichtigen Vorgängen zählten (Erfassung, aktive; Registrierung). (Quelle: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU)
Operativer Vorgang (OV)
Operative Vorgänge (OV) wurden angelegt, um gegen Einzelne oder Gruppen geheimpolizeilich vorgehen zu können. Ausgangspunkt waren zumeist – aus MfS- Sicht – strafrechtlich relevante Tatbestände.Operative Vorgänge (OV) wurden angelegt, um gegen Einzelne oder Gruppen geheimpolizeilich vorgehen zu können. Ausgangspunkt waren zumeist – aus MfS- Sicht – strafrechtlich relevante Tatbestände. Quelle: BStU, MfS, BV Berlin, BV-Leitung 155 Registrierpflichtiger Vorgang und Sammelbegriff für Einzel- bzw. Gruppenvorgänge (Registrierung, TV und ZOV); angelegt, um im Rahmen von verdeckten, aber zum Teil auch offenen Ermittlungen gegen missliebige Personen vorgehen zu können (Anweisung 14/52 vom 10.9.1952: Vorgangsordnung; 1976 durch Richtlinie 1/76 „zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“ neu geregelt). Ausgangspunkt des OV waren zumeist Hinweise auf – aus MfS-Sicht – strafrechtlich relevante Tatbestände (i. d. R. Verstöße gegen die in der DDR geltenden politischen Normen), die es zu überprüfen galt. Bestandteil der nach einem klaren Abfolgeprinzip zu erstellenden OV waren „Maßnahmepläne“ und ggf. in ihnen enthaltene Maßnahmen der Zersetzung, die vor allem dann zur Anwendung gelangten, wenn eine Inhaftierung aus taktischen Erwägungen als nicht opportun galt. Im OV ermittelte das MfS nicht nur gegen die betreffende Person, es wurden auch Erkundigungen zum familiären Umfeld, zum Freundes- und Kollegenkreis u. ä. eingeholt. Konnten Delikte keinen Personen unmittelbar zugeordnet werden (z. B. Flugblätter, Losungen, anonyme Briefe), wurde ein OV gegen unbekannt eröffnet. Darin wurden die nach den Vorstellungen des MfS potenziell als Urheber in Frage kommenden Personen dahingehend überprüft, ob ihnen die „Tat“ nachzuweisen war. Häufig ging dem OV eine Operative Personenkontrolle voraus. OV waren mit Vorschlägen zur Ahndung der nachgewiesenen Straftatverletzungen (z. B. Ermittlungsverfahren; Anwerbung; Zersetzungsmaßnahmen) bzw. bei Nicht-Bestätigung des Ausgangsverdachts durch Einstellen der Bearbeitung abzuschließen. (Quelle: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU)
Inoffizieller Mitarbeiter (IM)
Inoffizielle Mitarbeiter waren das wichtigste Instrument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), um primär Informationen über Bürger, die Gesellschaft, ihre Institutionen und Organisationen der DDR oder im Ausland zu gewinnen. Unter Umständen hatten IM auf Personen oder Ereignisse in der DDR steuernden Einfluss zu nehmen. (Quelle: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU)
Hauptamtlicher Mitarbeiter (HM)
Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit bildeten die personelle Basis des Geheimpolizeiapparates. Sie verstanden sich in der Tradition der sowjetischen Geheimpolizei als „Tschekisten“ (Ideologie, tschekistische) und Parteisoldaten an der „unsichtbaren Front“. Jenseits dieser Selbstmystifizierung repräsentierten sie den gewaltsamen Kern kommunistischer Machtausübung. In der staatssozialistischen Gesellschaft waren sie Teil der staatsloyalen Dienstklasse und pflegten den Korpsgeist einer Elite von „Genossen erster Kategorie“ (Wilhelm Zaisser). (Quelle: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950-1989/90. Berlin 2000.)
Hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter (HIM)
Seit den 60er Jahren bestehende Kategorie von inoffiziellen Mitarbeitern, die in einem besonderen Dienstverhältnis zum MfS standen und für ihre Tätigkeit eine regelmäßige Vergütung erhielten. Dabei handelte es sich weder um ein militärisches Dienstverhältnis (wie bei den Offizieren und Unteroffizieren) noch um ein Arbeitsrechtsverhältnis (wie bei den Zivilbeschäftigten). Zur Tarnung ihrer Tätigkeit erhielten die HIM zumeist einen Scheinarbeitsplatz (Herauslösung von IM). HIM waren u. a. als Führungs-IM und Ermittler (Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz (IME) sowie im Operationsgebiet in unterschiedlichen Funktionen tätig. (Quelle: Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU)