Furcht vor dem Fremden

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Es war schon dunkel, als Ingrid Lorenz auf ihr Fahrrad stieg, um zum Sport zu fahren. Der 61-Jährigen war mulmig zumute, so abends alleine in Halle-Silberhöhe. Die Straßen wie leer gefegt. Wo nur der Lichtschein von einigen wenigen  Laternen die Wege erhellte. In der Dunkelheit zeichneten sich plötzlich die Konturen von drei Männern ab – sie glaubt Ausländer zu erkennen.  Lorenz trat schneller in die Pedale. Sie hatte Angst. Angst überfallen zu werden. Angst vor den Fremden.

Blick auf die Wohnblöcke der Silberhöhe.
Die Silberhöhe ist eine Plattenbausiedlung im Süden von Halle. (Foto: Günter Bauer)

Fremdenangst ist eine uralte, festverankerte Phobie, erklärt Borwin Bandelow, ein Angstforscher aus Göttingen. Die Angst sei, als die Menschen noch in Höhlen lebten, überlebenswichtig gewesen, um den eigenen Stamm und die knappen Nahrungsmittel gegen andere zu verteidigen. Auch wenn das heute keinen Vorteil mehr darstellt, sei diese alte Abwehrhaltung genetisch  verankert. Durch die vielen Flüchtlinge könne diese aber reaktiviert werden.

Ingrid Lorenz
Ingrid Lorenz kam 1980 in die Silberhöhe. (Foto: Silvia Zöller)

Zurück zu Ingrid Lorenz: 1980 war die in Könnern Geborene durch  ihre Arbeit als Laborantin in die Silberhöhe gezogen. Die Plattenbausiedlung war gerade  aus dem Boden gestampft worden. Fließend warmes Wasser, Heizung,  Toilette in der Wohnung –  Luxus für damalige Verhältnisse. Lorenz erinnert sich gern an die Zeit, als  rund 40 000 Menschen hier lebten. Seitdem ist viel passiert.  Drei Viertel der Bewohner sind weggezogen, Wohnblöcke wurden abgerissen, Wohnungen stehen leer. Lorenz  jedoch ist geblieben. Denn ihr Viertel liegt ihr am Herzen. Sie bleibt aber nicht nur, sondern hat auch begonnen sich  zu engagieren. 2013 wurde sie  zur Vorsitzenden der Bürgerinitiative  Silberhöhe gewählt. Mit anderen Ehrenamtlichen hat sie Aufräum- und Putzaktionen geplant sowie Stadtteilfeste organisiert. Als Spielplatzpatin kümmerte sie sich   um fünf Bolz- und Spielplätze in der Silberhöhe.

„Die Straßen wurden vermüllt, der Wasserspielplatz in der Silberhöhe wurde als Waschmaschine genutzt.“
Ingrid Lorenz

Als  vor zwei Jahren 60  Roma in den Stadtteil gezogen waren, entbrannte unter den Bewohnern Streit.  Alteingesessene gingen auf die Barrikaden, auch Ingrid Lorenz waren die neuen Nachbarn nicht geheuer. „Die Straßen wurden vermüllt, der Wasserspielplatz in der Silberhöhe wurde als Waschmaschine genutzt“, klagte sie.  Es gab Proteste. Lorenz hat jedoch nicht mitgemacht – zumindest nicht absichtlich, wie sie  bis heute behauptet. Als etwa einhundert Menschen  unter dem Motto „Asylflut stoppen“ gegen die Neuankömmlinge auf die Straße gegangen waren. Lorenz sei vielmehr gerade auf dem Weg nach Hause gewesen, als sie  zufällig an der Kundgebung von Rechten vorbeikam und  eine alte Freundin entdeckte. Die beiden Frauen tauschten wie gewohnt Neuigkeiten aus.

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Am nächsten Tag bekam Lorenz einen Anruf von einem MZ-Reporter, der sie mit einem Foto konfrontierte, das sie auf  der Kundgebung zeigte. Die Stadt sowie die Bürgerinitiative Silberhöhe forderten daraufhin Aufklärung von ihr. „Das Bild wurde mir zum Verhängnis. Seitdem werde ich mit der rechten Szene in Verbindung gebracht, sogar als Nazi beschimpft. Doch ich bin nicht rechts. Ich habe weder die AfD, noch die NPD gewählt“, sagt sie heute.

„Ich bin nicht rechts. Ich habe weder die AfD, noch die NPD gewählt.“
Ingrid Lorenz

Andere Hallenser sehen das anders. Unter anderem wegen ihrer Teilnahme an den Montagsdemonstrationen auf dem  Marktplatz und einer Ansprache, die sie eineinhalb Jahre später, während einer Kundgebung im Südpark gehalten hat, wo es ebenfalls Proteste gab. Solidarisch wollte sie die Einwohner dort unterstützen, so die 61-Jährige. Lorenz hatte damals auf der Demonstration gesagt: „Ich kann es nicht verstehen, dass Ausländer über uns Frauen herfallen, als wären wir hier das Letzte oder für die nichts wert.“ Harte Worte. Rückblickend sagt sie heute: „Ich war wütend und bereue meine Aussagen im Nachhinein“, wobei sie betont, dass  sie eher ihre Wortwahl als die geäußerte Kritik bedauere.

Folgendes Video zeigt die Demonstration vom 18. September 2016 im Südpark Halle. Ingrid Lorenz spricht ab Zeitpunkt 1:25:30:

 

In der Silberhöhe  ist es wieder ruhiger geworden. Viele  Roma sind – sicher auch wegen der Widerstände – in andere Stadtteile gezogen. Doch mit der Flüchtlingswelle  im vergangenen Jahr kamen wieder neue Fremde nach Halle, 2700 waren es  2015. Die Silberhöhe war von den Zuzügen am  stärksten betroffen. Den prozentual höchsten Ausländeranteil in Halle hat dagegen Halle-Neustadt, dessen Teil der Südpark ist.

Silberhöhe, im Hier und Jetzt: Lorenz sitzt auf ihrer hellen Stoffcouch.  Durch das große Fenster kommt viel Licht in den kleinen Raum. „Ich bin mit der Flüchtlingspolitik in Halle unzufrieden.“ Sie fühle sich von der Stadt im Stich gelassen, nicht ausreichend angehört. Doch was die Politiker hätten besser machen sollen, weiß sie nicht. „Ich hoffe nur, dass Frieden einkehrt und keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland kommen“, sagt sie. Wo endet hier Angst und wo beginnt Fremdenfeindlichkeit?

 

Im Hintergrund dudelt das Radio. In den Nachrichten geht  es um eine Flüchtlingsunterkunft in Halle. Lorenz schaut auf. „Ich habe nichts gegen diese Menschen. Aber ich habe eben schon viel Schlimmes gehört. Seitdem die Flüchtlinge in Deutschland sind, gibt es vermehrt Überfälle und Vergewaltigungen. Auch vor Terroranschlägen muss man sich mittlerweile fürchten.“ Tatsache ist: Seit  2015 sind 42 000 Flüchtlinge nach Sachsen-Anhalt gekommen. Bis heute ist dieser Zuzug um 95 Prozent zurückgegangen.

Laut Kriminalstatistik gibt es in Sachsen-Anhalt keinen Beleg, dass durch die Zuwanderung von Asylbewerbern die Kriminalität gestiegen ist. Insgesamt sind knapp 11750 Straftaten durch Flüchtlinge begangen worden. Zwei Drittel der Tatbestände (8833) waren dabei Delikte gegen Aufenthaltsauflagen. Also Straftaten, die nur von Ausländern  begangen werden können. Von insgesamt 1439 Fällen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung, die im vergangenen Jahr im Land registriert wurden, sind bei 41 Fällen Asylbewerber als Tatverdächtige ermittelt worden (2,8 Prozent).

Gegen die Angst vor Fremden empfiehlt der Experte Bandelow Konfrontation als Mittel zur Überwindung. „Wer Angst vor Hunden hat, muss mit Hunden spazieren gehen. Wer Angst vor Fahrstühlen hat, muss Fahrstuhl fahren. Nach hundert Versuchen ist klar: Es passiert nichts. Genauso ist das, wenn man mehr Kontakt mit Fremden hat. Das erklärt, warum in Gebieten mit besonders wenigen Ausländern die Angst vor ihnen größer ist.“

„Ich spürte seinen Blick.“
Ingrid Lorenz

Doch  Konfrontation als Mittel zur Überwindung funktioniert nicht immer. Lorenz erzählt, dass sie  eigentlich noch nie schlechte Erfahrungen mit Flüchtlingen gemacht habe. Im Gegenteil.  Sie erinnere sich an eine Situation, die ihr besonders im Gedächtnis geblieben ist: Sie kehrte Laub auf einem  Spielplatz. Gegenüber saß ein junger Ausländer auf einer Bank und beobachtete sie. „Ich spürte seinen Blick.“ In der Nähe lag ein umgestoßener Papierkorb aus Beton. Lorenz versuchte, ihn wieder aufstellen, aber sie war zu schwach. Hilfesuchend schaute sie in die Richtung des jungen Mannes. Der stand plötzlich auf, um ihr zu helfen. Ein Deutscher, meinte sie, hätte das wohl nicht getan. Es sind widersprüchliche Aussagen in widersprüchlichen Zeiten. Übrigens: Als sie damals mit dem Fahrrad  an den fremden Männern vorbeifuhr, ist Ingrid Lorenz gar nichts passiert. Ihre Sorge war unbegründet. So wie jeden Abend.