Angst vor dem Fliegen

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Sophie Reimann blickt etwas skeptisch auf den Tragschrauber von Pilot Willi Horka. „Man sitzt ja quasi im Freien“, stellt die 27-jährige Hallenserin fest. Kritisch beäugt die kleine, schwarzhaarige Frau die Rückbank auf der sie in wenigen Minuten Platz nehmen soll und tastet diese ab. Die Karosserie ist sehr dünn, der mit Stoff überzogene Sitz sieht ein wenig verbraucht aus. Der Joystick des Piloten scheint nicht sehr stabil zu sein. Der jungen Frau ist mulmig zumute. Sehr früh ist sie an diesem Mittwochmorgen aus Halle zum Sportflugplatz Oberissdorf bei Eisleben gefahren. Mit dem Rundflug im Tragschrauber will Reimann ihre Grenzen austesten, denn sie hat Angst vorm Fliegen. Flüge in einem großen Verkehrsflugzeug sind für sie der blanke Horror: die anderen Passagiere, der Pilot – ein Fremder – in dessen Hand sie ihr Schicksal legt und überhaupt die Frage, wie so eine tonnenschwere Maschine sich in der Luft halten kann.

Begonnen hat alles vor vier Jahren: Tief in der Nacht ist Reimann mit Freunden auf einer Autobahn unterwegs. Die damals 23-Jährige hat es sich auf der Rückbank des Autos gemütlich gemacht. Sie schläft. Ein Freund fährt das Fahrzeug. Mit 140 Stundenkilometern rasen sie über die Straße. Plötzlich dreht sich das Auto. Die junge Frau wacht auf. Das Auto stößt gegen die Leitplanke. Der Fahrer war eingeschlafen. Sekundenschlaf.
Verletzt wurde bei dem nächtlichen Unfall glücklicherweise niemand. Doch bei der damaligen Studentin hat er tiefe psychische Probleme ausgelöst. „Seitdem kann ich nicht mehr so leicht fremden Menschen vertrauen“, erklärt die junge Frau. Der Unfall hat diverse Ängste bei ihr erzeugt: Unter anderem Todesängste und Angst vor Menschenmassen. Nach all den Jahren und einer Therapie ist nur eine Angst hartnäckig geblieben: die Flugangst.

Laut einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach leiden rund 16 Prozent der Deutschen unter Flugangst. Reimann, die als Chemie-Doktorandin an der Universität in Halle arbeitet, lässt sich von dieser aber nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. „Ich muss gegen sie angehen, sonst greift sie zu sehr in mein Leben ein.“ Für einen Urlaub mit ihren Freundinnen traut sich die Doktorandin einmal im Jahr in ein Flugzeug – ein Spießrutenlauf, bei dem sie immer wieder von den gleichen Symptomen gequält wird. „Schon während des Einstiegs fange ich an zu weinen“, berichtet sie. Meist werden dann die Stewardessen auf die Hallenserin aufmerksam. Sie kommen auf sie zu und geben ihr ein Getränk, an dem sie sich festhalten kann. „Bislang waren die Flugbegleiterinnen immer sehr nett zu mir und haben sich toll gekümmert“, erklärt die Flugangst-Patientin. Während sich bei ihr die Angst immer weiter ausbreitet, denkt sie in erster Linie an ihre Mitreisenden. „Ich versuche, mich so unauffällig wie nur möglich zu verhalten – die anderen sollen wegen mir nicht auch noch Angst bekommen“, sagt sie. Der Start des Flugzeuges sei für sie immer das Schlimmste. Vor allem der Moment während des Steigfluges wenn die Menschen in den Reihen vor ihr, quasi über ihr sind.

Sophie Reimann hat Angst davor abzustürzen und vor allem mag sie es nicht, dass sie die Kontrolle an jemanden abgeben muss, den sie nicht kennt. Dennoch: Reimann hat einen großen Traum. Irgendwann möchte sie einmal nach Amerika fliegen. Ein Flugangstseminar soll helfen. Sieben große Anbieter gibt es in Deutschland. Dass man die Hilfesuchenden gänzlich von ihrer Flugangst befreien kann, verspricht jedoch niemand seinen Klienten.
Die Bochumer Diplom-Psychologin Linda Föhrer bietet seit mehr als 15 Jahren mit ihrer Agentur deutschlandweit an Flughäfen Seminare gegen die Flugangst an. Föhrer, die früher als Chefstewardess für die Lufthansa und Condor Flüge begleitete, hat ihr erstes Seminar direkt nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 geleitet. „Die Menschen waren damals besonders ängstlich“, erinnert sich die Bochumerin.

Während ihrer Zeit als Stewardess hat sie vielerlei Erfahrung mit Flugangst-Patienten gesammelt, so dass sie ihr Seminar auf diese maßgeschneidert hat: Es erstreckt sich über acht Stunden und deckt alle Facetten der Flugangst ab. Ein solches Coaching kostet 275 Euro.
Sophie Reimann ist skeptisch und fragt sich, ob man ihr dort überhaupt helfen kann. Dennoch fährt sie voller Hoffnung Ende November zum Flughafen nach Dresden, wo ihr von Linda Föhrer geholfen werden soll. „Haltet mit einem Finger das linke Nasenloch zu und klemmt eure rechte Hand unter die linke Achsel. Schließt die Augen und atmet durch das rechte Nasenloch ein, lasst den Finger wieder los und atmet durch das linke wieder aus“, erklärt Föhrer eine der Yoga-Übungen zu Beginn. Jeder der insgesamt drei Teilnehmer macht mit. Sie wirken entspannt, auch die 27-jährige Hallenserin. Nach der anfänglichen Skepsis huscht ihr sogar ein Lächeln über das Gesicht. Am Ende gibt sie zu, dass die Übungen Spaß machen und helfen.

Föhrer fertigt für jeden Einzelnen während des Seminartages ein Angst-Protokoll an. Sie versucht herauszufinden, wie die Flugangst entstanden sein könnte und welche Auswirkungen sie hat. Vor allem sei Angst ein Auslöser für Stress, der sich dann noch verstärkt, wenn der Betroffene in einer Situation wie etwa Kofferpacken ohnehin gestresst ist, erklärt die Psychologin. „Oftmals betrifft Flugangst vor allem Menschen, die nicht so viel Alltagsstress haben, sondern von ängstlicher Natur sind und sich zu viele sorgenvolle Gedanken machen, was alles passieren könnte“, so Föhrer. Die angstmachenden Denkmuster müsse man erkennen und in positive Glaubenssätze umwandeln, so die Psychologin. Flugangst könne aber nicht zuletzt auch durch traumatische Erlebnisse, wie Sophie Reimann sie erlebt hat, entstehen.
Ein wichtiger Teil des Seminars setzt sich mit der Flugzeug-Technik auseinander. Hier kommt Rainer Plesse ins Spiel, der jahrzehntelang als Pilot gearbeitet hat. Der 75-Jährige ist es, der es schafft, die Angst-Patienten mit seiner einfühlsamen Art zu beruhigen – er strahlt durch sein Fachwissen und seine Kompetenz Autorität aus. So lernen die Teilnehmer unter anderem, dass der Autopilot zu 95 Prozent fliegt. „Es gibt keinen besseren Piloten, als diesen einen“, so Plesse. Nur sei der Autopilot eben eine Maschine, er kann nicht auf alle Situationen passend reagieren, weshalb der Flugkapitän ab und an auch manuell eingreifen muss.

Neben der Funktionsweise des Autopiloten bewegt Sophie Reimann vor allem aber auch diese Frage: Was passiert, wenn die Triebwerke komplett ausfallen? Das sei extrem selten, beruhigt Plesse. „Es gibt genau einen Fall, in dem das einmal passiert ist: Das war die spektakuläre Landung auf dem Hudson River in New York“, so der pensionierte Pilot.
„Das klingt eigentlich alles sehr logisch“, sagt Sophie Reimann. Zu verstehen, wie ein Flugzeug fliegt und welche Abläufe es im Cockpit gibt, ist sehr wichtig, um die Angst überwinden zu können. Als Linda Föhrer der Hallenserin zum Abschluss den Tipp gibt, vor dem Start noch einen Blick ins Cockpit zu werfen und den Piloten kennen zu lernen kann, beruhigt das Reimann ungemein.
Den Rundflug im Tragschrauber über Eisleben genießt Sophie Reimann in vollen Zügen. „Anfangs war es etwas komisch und die Maschine wackelte ein wenig, aber Pilot Willi hat mir gut zugesprochen und alles erklärt – dann war es halb so wild“, erklärt die 27-Jährige nach der Landung.

(Video vom Tragschrauber-Flug: Andreas Stedtler)