Wie ein schlechter Traum

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Michael Volkmann wuchs in mehreren DDR-Heimen auf. Er sollte dort zu einer sozialistischen Persönlichkeit gemacht werden – und entwickelte Ängste.  Vor Erziehern, engen Räumen und zu viel Nähe.

Ihr Schatten wird kleiner, Stück für Stück. Er will nicht, dass sie geht. Er rennt auf sie zu, wird festgehalten und kommt nicht weiter. Der Siebenjährige schreit. Nichts passiert. Er schreit immer lauter während die Schritte seiner Mutter immer leiser werden und schließlich verhallen. Dann ist sie weg. Zurück bleibt dieser Erzieher mit seinen kräftigen Armen. Kommen wird die Angst vor ihm und anderen Erziehern. Später entwickelt sich daraus eine weitere Angst: vor Beziehungen.

Als einziges von vier Geschwistern wird Michael Volkmann Anfang der 1960er Jahre in das Spezialheim Werftpfuhl nach Brandenburg gegeben, eine Einrichtung für schwer Erziehbare. Verhaltensauffällig und schwierig sei er gewesen. Seltsame Worte für einen Erstklässler. Zuvor lebte der Hallenser in einem Wochenheim. Der Vater hat die Familie verlassen, Michael Volkmann wird ihn nie kennenlernen. Die Mutter arbeitet damals ganztags als Journalistin. Die gemeinsamen Stunden am Wochenende sind kostbar, werden jedoch plötzlich zu einer Momentaufnahme, rutschten von der Gegenwart in die Vergangenheit.

 

 

Vertrauen soll Michael Volkmann nun den Erziehern. Fremden, die er – anders als seine Mutter – mit vielen Kindern teilen soll. Fremden, die sich anders anfühlen, wenn man sie umarmt und zu Hause ihre eigene Familie haben. Die Fähigkeit zu vertrauen, schrumpft mit jedem Heim, jeder Prügelattacke, jedem Aufenthalt in der Arrestzelle. Manchmal wacht Michael Volkmann nachts auf, kann sich nicht an das Geträumte erinnern. Nur das Gefühl, dass es ein schlechter Traum war, bleibt.

Sandersleben: Irgendwann zwischen Einschulung und Pubertät, irgendwo zwischen Halle und Berlin, irgendwie zwischen Heim Nummer Eins und Heim Nummer Sechs. Ab und zu springt diese Schublade auf, in der alle schlechten Erinnerungen gespeichert sind, wenn Michael Volkmann diesen Einheitsmilchreis riecht, Sammelduschräume sieht oder enge Räume betritt. Nach dem Waschen sollen sich in Sandersleben alle nebeneinander im Duschraum aufstellen. Ein Erzieher geht vorbei und mustert die Jungen, manche besonders – mal trifft es den, das nächste Mal einen anderen. Der Erzieher nimmt seinen Finger und streift den nackten Hintern. Eine schroffe Handbewegung. Sekundenschnell. Leise. Das Geräusch hat Michael Volkmann noch heute im Ohr.

Borgsdorf an der Havel. Kinder, die abends nicht einschlafen können, sollen auf dem Flur ausharren – stehend, mehrere Stunden, erinnert sich der heute 60-Jährige.

„Zum Dank durfte ich drei Tage in die Zelle.“
Michael Volkmann

Wittenberg: Es knallt. Dabei war es doch nur eine Ohrfeige. Mit der flachen Hand schlägt der Russischlehrer auf das Ohr des Jungen. Das Trommelfell reißt. Ein taubes Gefühl. „Zum Dank durfte ich drei Tage in die Zelle“. Der Jugendliche beschwert sich damals, möchte Anzeige erstatten. Nichts passiert. Es sind Szenen wie diese, die sich in das Unterbewusstsein eingraben: ein Gefühl der Ohnmacht, ganz abstrakt – ein Gefühl der Angst in kleinen Räumen, ganz konkret. Eine verkehrte Welt, in der der Geschädigte in die Arrestzelle geht und der Täter straffrei bleibt.

Christian Sachse untersucht die Geschehnisse in DDR-Heimen als Historiker. Er kennt solche Fälle: absurd, extrem, brutal. Er fordert – ob als Familienangehöriger, Freund oder Psychologe – zuzuhören, auch wenn die Geschichten noch so unglaublich erscheinen. „Wenn ein Betroffener zum Psychologen geht, dieser aber sagt: Kann nicht sein, der spinnt“, dann müsse zwei Mal hingehört werden.


Michael Volkmann erzählt von seinen Erinnerungen im Heim

Das Spezialkinderheim Pretzsch sei vergleichsweise moderat gewesen, so Volkmann. Hier besuchte der Jugendliche die neunte und zehnte Klasse. Ohrfeigen gab es auch, und einen Arrestkeller. Allerdings sei die Intensität der Strafen eine andere gewesen, und es gab Respektspersonen, gute Erzieher. Einen behält Michael Volkmann besonders im Gedächtnis. Nachmittags holt der Jugendliche die Kinder des Erziehers vom Kindergarten ab oder begleitet sie ins Kino. Dass ihm diese Aufgabe anvertraut und er wert geschätzt wird, bleiben bis heute schöne Erinnerungen für Michael Volkmann.

Nach der zehnten Klasse absolviert er eine Ausbildung zum Elektriker, geht zur Armee, reist, arbeitet und lebt heute in Halle. Er hätte gerne eine Familie gegründet. Die Angst hat ihn jedoch geprägt. „Ich finde es schade, dass ich keine Kinder habe“, blickt der Hallenser zurück. Beziehungen werden zur Herausforderung, aus Selbstschutz verlässt er nicht selten die Frau, die er liebt.

Viele, die im Kindesalter von den Eltern getrennt wurden, kämpfen mit ähnlichen Problemen. Psychoanalytiker sprechen in solchen Fällen von Deprivation, einer Bindungsstörung aufgrund prägender Erlebnisse im heranwachsenden Alter. Der britische Kinderpsychiater John Bowlby untersuchte 1969 erstmals die Mutter-Kind-Bindung in diesem Zusammenhang. Das Fehlen der Eltern ist eine Sache. Hinzu kommt, wenn Erzieher im Heim Gewalt anwenden.


  Im September 2016 besucht Michael Volkmann den Ort seiner Kindheit

43 Jahre später. Michael Volkmann kehrt im September vergangenen Jahres an den Ort seiner Kindheit – nach Pretzsch – zurück. Ein beklemmendes, aber auch schönes Gefühl für den Hallenser. Das Schloss wirkt idyllisch, wie ein Ausflugsziel für Touristen. Heute befindet sich auf dem Areal auch ein Heim, betrieben von der Salus gGmbH. Michael Volkmann geht in das Schwimmbad auf dem Schlossgelände. Das nachhallende Rauschen des Wassers, der Chlorgeruch, die Wärme – alles wie damals. Sport war eine der wenigen Dinge, die in dem durchgeplanten Alltag außer der Reihe geduldet wurden. Schwimmen, Laufen, Leichtathletik sind für ihn ein Ausgleich, auch heute noch.

So sportlich sein Körper durch die hervorstehenden Muskeln an Armen und Beinen wirkt, so unnahbar erscheint sein Charakter: bestimmt, freundlich, offen und doch manchmal nicht einschätzbar, distanziert.

Pretzsch, Sandersleben, Borgsdorf. All das waren Orte von Leid und Unrecht. Und das war nur die Spitze des Eisbergs. In den zahlreichen Jugendwerkhöfen sollten straffällig gewordene Heranwachsende wieder auf die richtige Spur gebracht werden. Die Straffälligkeit definierte der Staat, die Spur führte die „Insassen“ bis zum Suizid.


 Die Arrestzellen im ehemaligen Jugendwerkhof Torgau

Seit 2012 zahlt die Bundesregierung als Anerkennung für das Leid den Opfern Geld, um sie bei der Bewältigung der Folgeschäden zu unterstützen. Zudem wird ein zusätzlicher Rentenanspruch gewährleistet: „Das Hilfesystem des Fonds soll bestehende sozialrechtliche Versorgungssysteme ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen“, heißt es. Auch Michael Volkmann hat einen Antrag über den staatlichen Fond „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ gestellt. Die angesetzte Summe des Fonds von 40 Millionen Euro wurde allerdings schnell aufgebraucht, die Anzahl der Betroffenen war größer als vermutet. Nun wurde aufgestockt: auf das fast Zehnfache. Diese Summe lässt nur erahnen, wie viele Kinder  und Jugendliche damals betroffen waren.

Missbrauchsfälle wie die der Odenwaldschule in den 1990er Jahren zeigen, dass sich der Radius nicht allein auf die DDR und ihr System begrenzen lässt. 2010 starb der hauptverantwortliche Pädagoge der Odenwaldschule ohne jemals strafrechtlich belangt worden zu sein.

Seit einigen Monaten finden vertrauliche Gespräche der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs statt. Dafür werden auch nach wie vor Betroffene aus DDR-Heimen gesucht. Mit Psychologen und Historikern sollen die Gespräche dann ausgewertet werden. Die Resonanz in den ersten Monaten: „Aktuell sind 537 Anmeldungen aus allen Bereichen eingegangen“, erklärt Kirsti Kriegel, Pressesprecherin der Kommission.

Und die Täter? Die Kommission selbst hat keinen rechtlichen Auftrag hierfür. Nach dem Mauerfall interviewte der Mitteldeutsche Rundfunk Erzieher des Jugendwerkhofes Torgau und recherchierte zudem: Viele von ihnen waren auch nach der Wende als Pädagogen tätig.

Gesprochen hat Michael Volkmann über seine Erlebnisse fast nie, schon gar nicht mit seiner Mutter – bis kurz vor ihrem Tod: Sie gestand, dass der Staat sie damals wegen der Beschwerde ihres Sohnes gegen den Russischlehrer und Erzieher ruhig stellte und sie all die Jahre Schuldgefühle plagten. Mit ihr hat Michael Volkmann seinen Frieden gemacht. Bis heute pflegt der Sohn ihr Grab. Und auch wenn die Angst vor engen Räumen und Beziehungen heute den 60-Jährigen prägt, die Anstalt war für ihn beides: Heim und Hölle.

Torgau im September 2016. Günter Nossol besucht den 14. Heimkindertreff im ehemaligen Jugendwerkhof. Seine Geschichte beginnt mit 12 Jahren. Er hat damals eine verrückte Idee: Er flüchtet aus der DDR und schafft es auch. Im Westen wird er jedoch nicht lange bleiben.


Günter Nossol erzählt seine Geschichte

Der Historiker Christian Sachse untersucht nicht nur die Geschehnisse und das Unrecht in den Heimen und Jugendwerkhöfen. Er lebte selbst eine Zeit lang in den 1980er Jahren unweit eines Jugendwerkhofes. Bis heute beschäftigt er sich mit der Geschichte, um die Aufarbeitung voranzubringen. Seine Angst? Dass Sätze wie „Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet“ eine Renaissance erleben. Er arbeitet für die Aufarbeitung des Unrechts in DDR-Heimen und Jugendwerkhöfen als auch für eine präventive Haltung in der Gesellschaft.

„Anfang Novemeber 1989 kam eine Anordnung aus Berlin, vom Ministerium für Volksbildung, den Jugendwerkhof schnellst möglich und geräuschlos zu schließen.“

Christian Sachse

Die Aufarbeitung kann erste Erfolge vorweisen. Seit 2012 gibt es einen Fond, seit 2016 eine Kommission für die Opfer – fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Viele Taten liegen jedoch mehr als 50 Jahre zurück. Der DDR-Staat versuchte bis zuletzt, die Misshandlungen und Gewalt im Jugendwerkhof Torgau zu vertuschen, weiß Christian Sachse: „Anfang Novemeber 1989 kam eine Anordnung aus Berlin, vom Ministerium für Volksbildung, den Jugendwerkhof schnellst möglich und geräuschlos zu schließen.“ Die vertraulichen Gespräche zwischen der Kommission und den Betroffenen heute lassen hoffen, dass eine Aufarbeitung gelingen kann.


Historiker und Zeitzeuge Christian Sachse im Gespräch